Anna Bolena
2004.10.10 17:00
Herz und Kopf und Kehle
Der Beifall für die Bewältigung der Titelpartie war der Italienerin Francesca Scaini sicher. Großen Anteil am Gelingen des Abends hatte auch Kiels Erster Kapellmeister Johannes Willig (links) mit seinem überzeugenden Dirigat. Foto Struck Düster
Begebenheiten aus der Zeit der Tudor-Dynastie beflügelten in den 1830er-Jahren Gaetano Donizettis kompositorische Phantasie: "Anna Bolena" brachte für den Komponisten den persönlichen Durchbruch. Am Kieler Opernhaus kann man seine erste Meisteroper nun "pur" bewundern, unverstellt von szenischer Interpretation, glücklich besetzt und klug dirigiert. Nahtlos vermag die Oper Kiel so an die großartige "Hörtheater"-Serie mit Bellinis "Norma" in der vergangenen Saison anzuknüpfen. Entsprechend begeistert reagierte das Premierenpublikum am Sonnabend. Ein dreistündiges Beziehungsdrama, gespickt mit Klage, Anklage, Liebesschwüren, Verachtung und Vergebung, verschlagener Intrige und geistiger Umnachtung im Angesicht des Todes: Gaetano Donizetti kommt in Anna Bolena nahezu ohne äußerliche Effekthascherei aus. Heinrich VIII., der gefürchtete englische König, hat sich innerlich bereits von seiner zweiten Frau Anna ab- und deren Hofdame Johanna Seymour zugewandt. Jetzt muss er nur noch einen Dreh finden, um seine Ehefrau wegen Untreue dem Blutgericht übergeben zu können. Ein Drama, das sich in den Herzen und Köpfen abspielt - und sich über gewandte Kehlen mitteilt.
Für die entsprechend "klangpsychologische" Bewältigung der Titelpartie erhält Francesca Scaini den größten Beifall des Premierenabends. Vor allem wohl für ihre eindringliche Gestaltung der Schlussszene, in der sie ihre Anna mal unschuldig lächelnd, mal aufbegehrend überdreht am Abgrund des Wahnsinns stolzieren lässt. Zumindest bis zur Pause bleibt die hörbar Belcanto-geschulte, wenn nötig also erstaunlich gurgelgeläufige Sopranistin, deren Timbre den reizvollen Rauch der Italienerin mitbringt, allerdings recht reserviert. Dass sie inzwischen eigentlich in dramatischerem Fach singt, ist vor allem der nur unter starkem Druck anspringenden Höhe anzuhören. Den Eindruck von einer adäquat besetzten "Diva Dolorosa" schmälert das aber kaum.
Den überaus schwierigen Balanceakt zwischen der schwärmerischen Lyrik und Beweglichkeit auf der einen und der ab 1830 immer machtvoller drängenden Dramatik auf der anderen Seite besteht vor allem der Tenor Mineo Nagata. Sein Lord Percy, Annas eigentliche Liebe und dadurch willkommenes Untreue-Werkzeug des Königs, fasziniert zunächst mit biegsam eleganten und bald mit glühend emphatischen Tönen.
Nicht minder leidenschaftlich, aber noch eher im rein belcantistischen Format angelegt, ist die Partie von Annas Vertrauter und Nebenbuhlerin Johanna Seymour. Der Mezzosopranistin Marina Fideli gelingt es wiederum exemplarisch, ein Maximum an nervöser innerer Zerrissenheit ihrer Figur zu transportieren. Alle Exaltationen des Stimmverlaufs werden Teil ihres Gestaltungswillens. Was die Ausdruckskraft angeht, erreicht mit anderen Mitteln auch Hans Georg Ahrens als Heinrich VIII. höchste Werte. Und das in einer Partie, die solistisch nur begrenzte Möglichkeiten bietet. Aber Ahrens differenziert die bassfinstere Verschlagenheit des selbstsüchtig liebenden Königs eben ungeheuer geschickt.
An seinem Hof lässt der junge Musikant Smeton aufhorchen: Claudia Iten zeichnet den verliebten Pagen, Vorläufer des Oscar in Verdis Maskenball, mit frisch sprudelnder Direktheit. Desweiteren sind Annas Bruder (Jooil Choi) und ein Offizier (Fredrik Akselberg) zu hören. Die fast immer fesselnden Gesangsfäden, frei ausgesponnen nicht nur in den Soli, sondern auch in den schön ausbalancierten Ensembles, laufen am Dirigentenpult mit der instrumentalen Grundierung zusammen. Die Überzeugungskraft von Johannes Willigs Dirigat liegt nicht daran, dass er mit Dampf eine Stretta voranzutreiben vermag - das kann er auch. Die wieder restlos überzeugende Italianità entsteht vielmehr, weil Kiels Erster Kapellmeister jede melodische Nuance, jede Begleitformel unermüdlich liebevoll ausformen lässt. Auch dann, wenn sie noch so unbedeutend erscheint. Die Kieler Philharmoniker, die zu Recht in kleiner Besetzung auf der Bühne sitzen (Donizetti schrieb seine Oper für ein sehr intimes Opernhaus), spielen mit leichtfüßiger Sorgfalt und gewinnen gerade daraus ihre Donizetti-Eindringlichkeit. Die Einleitung zur Kerkerszene mit dem wunderbar zartfühlend integrierten und entsprechend gesungenen Damenchor (Einstudierung: Jaume Miranda) mag dafür als Paradebeispiel benannt sein.
Gaetano Donizetti: Anna Bolena. Opernhaus Kiel. Konzertant, in italienischer Sprache mit dt. Obertiteln. Musikalische Leitung: Johannes Willig. Nächste Termine: Sa 16. und Fr 29. Oktober (20 Uhr), So 14. (18 Uhr) und Di 30. November (20 Uhr). Karten: 0431 / 95 0 95 www.theater-kiel.de
Von Christian Strehk
Aus den Kieler Nachrichten vom 11.10.2004
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