Kaleidoskop des Bangens - Turandot
2008.06.16 04:30
Der von David Maiwald einstudierte Chor (gr. Foto) leuchtet in stimmlicher Harmonie
Kiel – Einhelliger Jubel im Opernhaus: Dem Regisseur Uwe Schwarz und Kiels zweitem Generalmusikdirektor Johannes Willig ist eine Neuproduktion von Giacomo Puccinis Oper Turandot geglückt, die hinter der pompösen Fassade eine zeitlos gültige Politparabel entdeckt – voll von bösen Spitzen und ahnungsvollen Schönheiten.
Fassungslos stolpert Calaf durch die uniformen Reihen. Angst hat hier die Seelen eines ganzen Kulturvolkes aufgefressen. Gesichtslos stammelt es das heraus, was man auf der höheren Etage wohl gerade gerne hören möchte. Wer nicht alle Fragen beantworten kann, verliert in diesem China, das für so viele andere gleichgeschaltete Staaten steht, den Kopf.
Schon Calafs Vater Timur, dem Hans Georg Ahrens viel sonore Bass-Würde gibt, stammt sichtlich aus einer anderen, freigeistigeren Welt. Vielleicht ist er ja eine Art entthronter Dalai Lama oder mutiger Mönch aus Birma (Kostüme: Dorit Lievenbrück). Seinem Sohn gibt Emmanuel di Villarosa Stimme. Dass der Tenor tagelang vor der Premiere mit einer Indisposition zu kämpfen hatte, merkt man an der Vorsicht, mit der er die Partie angeht. Doch die passt gut zur angenehm unheroischen Rollenauffassung. Behutsam tastet sich dieser Calaf an seine befreiende Aufgabe heran und hat in der nachtschattierten Arie Nessun dorma einen schön gestalteten und eben nicht vordergründig auf Effekt gesungenen Höhepunkt.
Dass durch ihn die Sklavin Liù, Puccinis heimliche Geliebte in der Oper, in den Tod getrieben wird, geht vor allem den Zuhörern nah: Susan Gouthro, an dieser Stelle schon oft für ihre lyrischen Soprankünste gelobt, übertrifft sich selbst und alle anderen mit berührend feinstofflichen Pianissimo-Tönen.
Norbert Ziermann hat für das bedrohlich „saubere“ Fernost-Szenario wieder seine starken, im wahrsten Sinne weiträumigen Bühnenbilder geschaffen. Individuen werden in riesigen Setzkästen wegsortiert. Bewegliche Scheuklappen sorgen dafür, dass sie nicht alles mitbekommen. Von der Decke senkt sich das Gebälk und macht aus einer Volksversammlung einen kollektiven Folterkeller. Manchmal schwebt ein stilisierter Mond ins Bild. Natur nährt Hoffnung. Aber vor die Hoffnung schiebt sich Turandot, das böse, scheinbar eiskalte, späte Mädchen.
Giovanna Casolla ist eine typisch hochdramatische Besetzung für die Titelpartie. Schlagkraft und Messerschärfe der Stimme verdrängen partiell das reine Hörvergnügen. Doch die Italienerin ist eine sehr erfahrene Turandot, eine, die hinter der Heroine auch die Verletzlichkeit spüren lassen kann.
Der Regisseur Uwe Schwarz unterschlägt nicht, dass Puccinis im Kern finstere Oper auch eine komisch-groteske Seite hat. Von der Decke baumeln Prinzenköpfe wie Lampions. Auf dem Zwischenvorhang wird der chinesische Kulturminister „um-bau“ gefeiert. Und der immer noch amtierende Kaiser Altoum, den Chien-Chi Lin werktreu gebrochen und doch edel singt, gibt den tattrigen Politgreis. Aus der Tradition der Commedia dell'arte stammen seine drei „Minister“, die von Jörn Eichler (Pang), Fred Hoffmann (Pong) und vor allem Tomohiro Takada (Ping) mit Sangeslust charakterisiert werden. Gerade weil die Regie sie ins Klischee der bebrillten Stasi-Schächer abdrängt, bekommt ihr munterer Singsang böswillig Schlagseite. Und dass ausgerechnet sie es sind, die Chinas Untergang als Karaoke-Freizeitspäßchen besingen, veranschaulicht bestens die oft erlebte Verblendung der Herrschenden.
Die glasklare Werkanalyse, die Puccinis vermeintlich folkloristisches Es-war-einmal-Märchen zur heutigen Politparabel adelt, findet ihr Pendant an entscheidender Stelle: Der Dirigent Johannes Willig, die Kieler Philharmoniker und die Chöre (Opern- und Extrachor einstudiert von David Maiwald; Kinder- und Jugendchor einstudiert von Michael Nündel) leuchten in optimaler Abstimmung tief in das kunstvoll gewebte Netzwerk der unvollendeten Partitur hinein. Die Chöre skandieren präzise, betören mit gestaffelter Dynamik und guter Intonation. Willig hat die Philharmoniker im Graben werkdienlich neu gruppiert, kontrolliert souverän das Lauern perkussiv tickender Rhythmen und erntet ein glitzerndes Kaleidoskop allemal moderner Klänge des Jahrgangs 1924.
So passt sich auch der anspruchsvolle „neue“ Schluss für das Fragment bestens an. Luciano Berios Komplettierung serviert Puccinis hinterlassene Skizzen wie durch gewelltes Glas. Der Abstand zur spätromantischen Süße wechselt höchst reizvoll, kitzelt und irritiert das Ohr gleichermaßen. Auf jeden Fall wird in dieser Version sehr viel deutlicher, wie die Liebe Turandots Eispanzer zum Schmelzen bringt. Jeder Einzelne im Volk darf vorsichtig besseren Zeiten entgegenblinzeln. Eindrucksvoll, das Ganze.
Von Christian Strehk
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